Die neue Selbstverständlichkeit

Junge Dirigentinnen auf dem Weg an die Spitze

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Antonia Brico
Antonia Brico

Antonia Brico und die Pionierinnen

Wegbereiterinnen im Takt der Geschichte

Ein vergiftetes Lob: „Wenn man die Augen schließt“, sagt der eine Mann zum anderen, „dann merkt man gar nicht, dass da eine Frau dirigiert.“ Szene aus dem Kinofilm „Die Dirigentin“ von 2020 über Antonia Brico, eine der ersten Dirigentinnen von Weltruhm: eine Frau, die ihrer Leidenschaft für die Musik bedingungslos folgte, sich von Widerständen nicht beirren ließ und rückblickend wie eine Pionierin wirkt.

Antonia Brico war 1930 neben der Brasilianerin Joanidia Sodré eine von zwei Frauen, die innerhalb desselben Jahres am Pult der Berliner Philharmoniker standen. Doch waren sie beide nicht die ersten: Als erste Frau am Pult des Berliner Renommier-Orchesters gilt Mary Wurm, eine Schülerin von Clara Schumann, die 1887 ein Konzert in der Sing-Akademie geleitet hat.

Der lange Weg zur Gleichberechtigung

Warum Frauen im Dirigentenberuf so selten sind

Historische und soziokulturelle Erklärungen, warum Frauen am Dirigentenpult lange Zeit nur eine Randnotiz bildeten, gibt es viele: Männerdomäne, Herrschaftsanspruch, Habitus – um nur einige Stichworte zu nennen. In der Musik ist es eben auch wie in anderen, lange Zeit männlich dominierten Gebieten: Der Maestro am Pult galt unhinterfragt als kulturelles Symbol – nicht zuletzt für gewachsene Strukturen innerhalb eines Berufsfeldes, das sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat. Denn zu Mozarts und Beethovens Zeiten gab es den Dirigenten im heutigen Sinne noch gar nicht.

Doch die maskuline Bastion bröckelt aktuell gewaltig, sicher auch, weil sich das Berufsbild gewandelt hat: vom über allem thronenden Zampano bis hin zum vermittelnden Moderator. In diesem Jahr dirigierten auf Bayreuths Grünem Hügel erstmals mehr Frauen als Männer. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass erst 2021 eine Frau ihr Dirigier-Debüt im Wagnerschen Festspielhaus gegeben hat: Oksana Lyniv.

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Oksana Lyniv
Oksana Lyniv

Der weibliche Aufstieg

Immer mehr Frauen übernehmen die führenden Positionen

Bemüht man eine Statistik vom Beginn des Jahres 2024, so befinden sich unter den 100 meistbeschäftigten Dirigenten lediglich 14 Frauen. Vor zehn Jahren waren es nur vier. Die Zahl der Studentinnen im Fach Dirigieren ist zwar nicht sprunghaft gewachsen, doch finden immer mehr Frauen den Weg bis an die Spitze. Die Mühlen mahlen zäh, aber immerhin, sie mahlen.

Das Dirigenten-Karussell, das sich pausenlos dreht und auf das immer andere Kandidaten auf- und wieder abspringen, wird endlich weiblicher. Simone Young in Hamburg, Marin Alsop in Wien oder Susanna Mälkki in Helsinki zählen zu den Pionierinnen, die in den letzten Jahrzehnten das Terrain bereitet haben für Top-Dirigentinnen wie Mirga Gražinytė-Tyla, Joana Mallwitz, Nathalie Stutzmann oder Elim Chan – und diese die Liste wird, so darf man die jüngsten Entwicklungen wahrnehmen, von Jahr zu Jahr länger.

Neue Maßstäbe

Marie Jacquot als erste Frau an der Spitze eines deutschen Rundfunkorchesters

Eines der jüngsten Beispiele: Marie Jacquot. Erst vor kurzem stellte der WDR die Französin als künftige Leiterin seines großen Sinfonieorchesters vor. Ab der Saison 2026/27 wird die heute 34-Jährige die erste Frau auf dem Chefposten eines deutschen Rundfunkorchesters sein. Aktuell ist sie Erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker und zugleich designierte Chefdirigentin des Royal Danish Theatre in Kopenhagen. Ihr Motto klingt erfreulich geerdet: „In der Kunst geht es nicht darum ganz nach oben zu kommen und die French Open zu gewinnen, sondern die French Open zu erleben“. Sie möchte ihren Weg „Schritt für Schritt“ gehen und nie aufhören „ihren Beruf zu lieben“.

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Marie Jacquot
Marie Jacquot © Werner Kmetitsch

Johanna Soller und die Alte Musik

Tradition trifft auf weibliche Führungskraft

Auch der Münchener Bach-Chor und das Münchener Bach-Orchester werden inzwischen von einer Frau geleitet: Johanna Soller, Cembalistin, Organistin, Dirigentin. Sie steht stellvertretend für mehrere Frauen, die gerade auf dem Gebiet der Alten Musik als Leiterinnen eigener Ensembles auf sich aufmerksam gemacht haben, ähnlich wie bereits Christina Pluhar mit L'Arpeggiata oder Emmanuelle Haïm mit Concert d' Astrée.

So ist, trotz des neuen Amtes, für Johanna Soller völlig klar: „Ich werde weiter die Orgel in St. Peter spielen, Projekte mit meiner Capella Sollertia umsetzen und weiterhin unterrichten“.

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Johanna Soller
Johanna Solller © Simon Pauly

Gemma New und das Lunar Ensemble

Ein weibliches Vorbild in der Neuen Musikszene

Auch Gemma New hat früh ein eigenes Ensemble gegründet. Die Neuseeländerin, Tochter einer Musikerfamilie, hat in Maryland das Lunar Ensemble ins Leben gerufen und etliche Werke uraufgeführt. Über Stationen in St. Louis und Dallas führte ihr Weg zurück in die Heimat, wo New seit zwei Jahren das New Zealand Symphony Orchestra leitet – auch sie als erste Frau.

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Gemma New
Gemma New © Sylvia Elzafon

vermehrte Förderung 

Wie etablierte Dirigenten junge Kolleginnen unterstützen

Inzwischen ist es auch für die etablierten männlichen Dirigenten eine Selbstverständlichkeit geworden, junge Kolleginnen zu fördern. So wie bei Marin Alsop als Schülerin von Leonard Bernstein, wie bei Alondra de la Parra, die von Kurt Masurs Satz „Sei stark“ geprägt worden ist, oder wie bei Holly Hyun Choe, die zwei Spielzeiten lang als Assistenzdirigentin des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi viel hat lernen können und derzeit ein Orchester-Debüt ans nächste reiht.

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Holly Hyun Choe
Holly Hyun Choe

Anna Rakitina

Die Reise einer Dirigentin von der Geige zum internationalen Orchester

Die Namen der Orchester, die Anna Rakitina inzwischen leitet, liest sich wie ein „Who is who“. Die Tochter ukrainisch-russischer Eltern hat zunächst Geige gespielt, wollte dann Sängerin werden. Doch mit 22 Jahren entdeckte die damalige Studentin des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums plötzlich eine ganz andere Seite: „Ich wurde neugierig darauf, wie Dirigenten ausgebildet werden, was sie mit ihren Armen machen und wie das alles funktioniert.“

Die inzwischen promovierte Musikwissenschaftlerin hat bereits mit den Orchestern von Boston, Dresden, New York, Los Angeles und Leipzig gearbeitet. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin würdigte nach einer ersten gemeinsamen Arbeit ihre „menschliche Seite, ihre Sensibilität und ihr tiefes psychologisches Verständnis für ihre Arbeit“.

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Rakitina Anna
Anna Rakitina © Julia Piven

Frauen in der Klassikbranche

Wandel auch hinter den Kulissen

Dass die Klassik weiblicher wird, erkennt man nicht nur an namhaften Solistinnen und Dirigentinnen, sondern auch an den wichtigen Personen im Hintergrund. Wo früher mächtige Impresario-Figuren die Strippen des Geschäfts bestimmten, sind es heute vermehrt Frauen. Zu ihnen zählt Tanja Dorn, ausgebildete Konzertpianistin, die inzwischen zu den erfolgreichsten Musikmanagerinnen im Klassikgeschäft zählt. Sie vertritt auch Yue Bao aus Shanghai. Die 32-jährige Dirigentin dirigiert die Sinfoniker aus Houston und war mit den Wiener Philharmonikern auf Chinatournee.

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Yue Bao
Yue Bao © Michael Starghill

Frauen als Dirigentinnen? Was früher als exotisch, gar als unmöglich abgestempelt wurde, hat sich längst zum zentralen Faktor unseres Musiklebens entwickelt – mit einem weiterhin enormen Wachstumspotenzial.

Autor: Dr. Christoph Vratz