Karl Bartos: Das Cabinet des Dr. Caligari
Robert Wienes Stummfilmklassiker von 1920 in neuem Klanggewand, komponiert von ex-Kraftwerk-Musiker Karl Bartos, uraufgeführt am 17. Februar 2024 in Frankfurt
Die Filmzeitschrift Licht-Bild-Bühne hatte damals nicht mit Superlativen gegeizt: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ sei nichts Geringeres als „der modernste, aktuellste, gewagteste Film, den die Welt je gesehen hat“, schrieb das Magazin 1920 und damit kurz nach der Premiere über den ersten Psychothriller der Filmgeschichte.
Ein surreales Spiel mit Wahn und Traum, mit Hirngespinsten und Schlafwandelei, mit Visionen und verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen: So brachte der Regisseur Robert Wiene vor gut 100 Jahren die Geschichte um den zwielichtigen Dr. Caligari auf die Leinwand. Bereits die Zeitgenossen erkannten den Rang dieses filmischen Kunstwerks.
Karl Bartos` Faszination für Caligari
Seit 2005 ist Karl Bartos fasziniert von diesem Klassiker der Filmgeschichte – nicht nur wegen des Kunstanspruchs, sondern auch, weil der Film mit Erzählebenen und Realitäten spielt und Eindeutigkeiten verweigert.
„Es ist so eine Sache mit diesem Film. Egal wie oft man ihn sich anschaut, er bewahrt sein Geheimnis. Wer hier wahnsinnig ist und wer nicht, ist und bleibt eine Frage der Interpretation“, so Bartos. Aus dieser Begeisterung ergaben sich Fragen nicht nur für den Cineasten, sondern vor allem für den Musiker Bartos: Wie hätte der Film geklungen, wenn es bereits 1920 die Möglichkeit gegeben hätte, auf einer eigenen Tonspur den bewegten Bildern Klänge einzuschreiben? Und wie lässt sich diese Lücke heute, ein gutes Jahrhundert später, schließen?
Geräuschebene für die Authentizität des Films
Karl Bartos beschäftigte sich zunächst damit, welche Schallquellen durch die Filmszenen selbst vorgegeben wurden (Stimmen, Schritte, Jahrmarkttreiben). Um dann zu überlegen, wie eine zusätzliche eigenständige Musikebene gestaltet sein könnte, die der Modernität und Eigenwilligkeit der Bilder Rechnung trägt und sich organisch ins Ganze einfügt.
„Sound Design und erzählende Filmmusik“, so definiert er die Doppelaufgabe, der er sich stellte. Und das hieß, in einem ersten Schritt eine durchgehende Geräuschebene zu schaffen, Holztüren quietschen und Papier knistern zu lassen, Stimmen hörbar zu machen. Eine akustische Grundierung, so gekonnt beiläufig, dass sie von den meisten vermutlich kaum bewusst registriert wird.
Eine Hommage ohne musikalischen Expressionismus
Schwieriger wurde es bei der so genannten dramaturgischen Musik, den hinzugefügten eigenständigen Themen. Zwar ist bekannt, dass bei der Premiere des „Cabinet des Dr. Caligari“ eine Originalmusik für Orchester des Filmkomponisten Giuseppe Becce aufgeführt wurde, jedoch ist diese verschollen. „Letztlich musste ich wohl allein einen Ansatz finden, Musik für den legendären Film zu komponieren“, erkannte Bartos und setzte sich an die Arbeit.
Ein Werk des filmischen Expressionismus zu vertonen, bedeutete für ihn aber nicht, auf die Mittel des musikalischen Expressionismus, etwa nach dem Vorbild Arnold Schönbergs, zurückzugreifen. Vielmehr löste sich Bartos vom Denken in Musiksystemen oder stilistischen Überlegungen und ließ sich stattdessen vom Rhythmus und Tempo der Szenen leiten – auf der Basis seiner langjährigen Grundvertrautheit mit dem gesamten Film bis in die feinsten Nuancen hinein.
Der zeitlose Klang des elektronischen Symphonieorchesters
Wichtigstes Ausdrucksmittel war für ihn dabei der zeitlose Klang des Symphonieorchesters, selbstverständlich synthetisch hergestellt und elektronisch moduliert. Schließlich bezeichnet Bartos selbst die Verfahren der elektronischen Klangproduktion „als grundlegendes Ausdrucksmittel meiner Arbeit“.
Kurzbiografie Karl Bartos
Karl Bartos studierte an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf, spielte an der Deutschen Oper am Rhein und in mehreren experimentellen Ensembles, bevor er 1974 von Kraftwerk zu deren Autobahn-U.S. Tournee (1975) eingeladen wurde. Zwischen 1974 und 1990 war er Mitglied und Co-Autor der Band und wirkte an folgenden Plattenveröffentlichungen mit: Radio-Aktivität, Trans Europa Express, Die Mensch-Maschine, Computerwelt, Tour de France, Techno Pop, The Mix.
Nachdem er die Gruppe verlassen hatte, komponierte er unter anderem mit Bernard Sumner (New Order), Johnny Marr (The Smiths) und Andy McCluskey (OMD) neue Popmusik und lehrte von 2004 bis 2009 als Gastprofessor Auditive Mediengestaltung an der Universität der Künste Berlin.
Seit den neunziger Jahren veröffentlichte Karl Bartos auch Soloplatten u. a.: Esperanto 1993, Electric Music 1998, Communication 2003 und Off the Record 2013. 2021 wurde Karl Bartos als Mitglied des Classic line-up mit dem Early Influence Award / Kraftwerk ausgezeichnet und in die Rock‘n‘Roll Hall of Fame aufgenommen.
Seine Autobiografie „Der Klang der Maschine“ (Eichborn) erschien 2017 in Deutschland und wurde in der Übersetzung „The Sound of the Machine – My Life in Kraftwerk and Beyond“ 2022 in Großbritannien und den USA von Omnibus Press veröffentlicht, im November 2023 als Taschenbuch.
Drei Fragen an: Karl Bartos
Warum fiel Ihre Wahl auf diesen Stummfilmklassiker bzw. was hat dieser Film, was andere nicht haben?
Eigentlich war es umgekehrt: Der Film kam zu mir. Manchmal findet man etwas, wonach man gar nicht gesucht hat. In den 1970er Jahren habe ich mit meinen Musikerfreunden in Düsseldorf Fritz Langs „Metropolis" in Musik übersetzt und dabei habe ich „Das Cabinet des Dr. Caligari" kennengelernt. Der Film kennzeichnet den Anfang und zugleich den Höhepunkt des expressionistischen Films in Deutschland und machte die Weimarer Traumfabrik weltberühmt.
Die Handlung spielt zwar im 19. Jahrhundert, aber man spürt den Puls der Zeit: Der Erste Weltkrieg, als die Industrie des Tötens erfunden wurde, ist die Grundstimmung der erzählten Welt. Wenn man den Caligari sieht, huschen die Geister der Toten über die Leinwand. Und die Überlebenden sind schwer traumatisiert. Ihnen begegnen wir in der Irrenhaus-Szene. Hier ist es so, wie in Lewis Carrolls‘ »Through the Looking Glass«: in einem alternativen Universum stehen die Dinge im Widerspruch zur realen Welt. Nichts ist für die Insassen mehr so, wie es einmal war.
Der Film ist ein Spiegel der Psyche. Man schaut in den Abgrund der menschlichen Seele. Die Figuren haben ihr Inneres nach außen gewendet. Für mich sind sie wie lebendige Rhythmen. Dr. Caligari bewegt sich in seinen bizarren Synkopen und Cesare schwebt lautlos umher, was seinem hypnotischen Trancezustand entspricht. Die pantomimische Emotionalität der Menschen auf der Leinwand und die Montage der Bilder habe ich als Choreografie verstanden und in Musik übersetzt. Musik ist ja von Natur aus expressionistisch. Es geht bei ihr ebenso um subjektive Gefühle. In ihrer Ambiguität kommt Musik dem Traum sehr nahe. Und da in diesem Film die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten sind, ist »Das Cabinet des Dr. Caligari« geradezu prädestiniert für die Arbeit mit Klang. Wir stellten uns vor, dass der Protagonist Francis seine Traumwelt mit Kaleidoskop-Ohren wahrnimmt.
Was vermittelt Ihre Filmmusik anders oder intensiver als die Original-Musik?
Die Filmhistorikerin Lotte Eisner erklärte sinngemäß: Auf dem neuen Medium Film verbinden sich die expressionistische Weltanschauung, die Psychoanalyse und die mystische Geisterwelt der Romantik. Die Musik fehlt in diesem Zusammenhang, weil Bild und Ton noch nicht auf dem Zelluloid vereint werden konnten. Zu den Aufführungen in den 1920er Jahren wurde eine Originalmusik von Giuseppe Becce gespielt, die aber verschollen ist.
Mein Partner, Toningenieur Mathias Black und ich hatten den Plan, einen akustischen Code für dieses 100 Jahre alte Filmkunstwerk zu erfinden, der ihn ins Hier und Jetzt transportiert. Dafür musste der Filmton zum Geschehen passen. Egal ob wir Zuschauer sind oder in unserer Vorstellung als Teilnehmer in der erzählten Welt herumspazieren. Denn die Menschen heute nehmen einen Film audiovisuell wahr. So haben wir an einer Musik gearbeitet – zu der auch ein Klangkonzept gehört –, die mit menschlicher Stimme, Klängen und Geräuschen, die damals der Zeit geschuldete Trennung von Bild und Ton aufhebt.
Welche technische Besonderheit dieses Projekts ist für Sie herausragend?
Dank der umfangreichen Restaurierungsarbeiten der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden, können wir heute die frisch restaurierte, lupenrein scharfe 4-K-Fassung des Films live auf einer haushohen Leinwand erleben. In Kombination mit einem Soundsystem, das auch ein Rockstadion beschallen kann, gibt der Klang der Musik und des Sound Design der zweidimensionalen visuellen Ebene eine weitere, räumliche Dimension, die den Film umhüllt und durchdringt.
Mehr dazu in diesen Artikeln der Süddeutschen Zeitung:
Zum Artikel „Urknall der Popkultur" (17.11.2023)
Zum Artikel „Was für ein Triumph" (18.02.2024)
Interview von Karl Bartos im Podcast von Deutschlandfunk Kultur: